Human Content – OHNE KI erstellt
Montessori – für viele Eltern klingt das nach einer Sekte oder einer Religion, weil es zugleich auch der Name der Frau ist, die diese Strömung zum Leben erweckt hat. Andere denken an antiautoritäre Erziehung. – Nichts von alldem trifft zu. Montessori ist die weltweit bekannteste und vermutlich am weitesten verbreitete Richtung der alternativen Pädagogik, die ihrer Zeit weit voraus war und gerade heutzutage aktueller ist denn je, da sie Kindern dabei hilft, sich zu selbstständigen und selbstbewussten, fähigen, aber auch achtsamen und respektvollen Persönlichkeiten zu entwickeln. Sie ermöglicht es Kindern, innerlich zu reifen und zu selbstbestimmten Erwachsenen heranzuwachsen, die in sich ruhen und in Frieden mit ihrer Umwelt leben. In diesem Artikel beleuchten wir die Montessori-Methoden wie auch die Materialien, die zum Einsatz kommen, und zeigen, welche zahlreichen positiven Auswirkungen sie auf die kindliche Entwicklung haben.
Maria Montessoris Bild vom Kind
Was wäre, wenn Mozart eine Kita oder Schule besucht hätte – und keiner hätte es gemerkt? Weil Bildung so durchstrukturiert und standardisiert ist, dass das besondere Talent gar nicht aufgefallen – oder schlimmer noch: unterdrückt worden – wäre? Diese Frage stellt sich Karin Ann, Gründerin einer Montessori-Einrichtung in Hongkong, und kommt zu dem Schluss, zu dem sinngemäß auch Maria Montessori vor mehr als 70 Jahren gekommen ist: „One size doesn’t fit it all.“ (Zu Deutsch: Eine Einheitsgröße passt nicht allen.) Nicht nur Dienstleistungen sollten maßgeschneidert sein, sondern auch die Bildung – oder gerade die. Denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die frühen Lernerfahrungen eines Kindes eine enorme und dauerhafte Auswirkung auf seine Entwicklung haben und darauf, wie es das Lernen empfindet.
Schauen wir uns die Schulen in den meisten zivilisierten Ländern an, so ist der Unterricht nicht nur normiert, weil alle dasselbe zur selben Zeit lernen, sondern er ist vor allem auch verpflichtend. Sprich: Es gibt hierzulande einen Zwang zur Bildung. Dabei, und das entdeckte Maria Montessori schon in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, besitzt ein Kind von Natur aus einen inneren Antrieb, Dinge zu entdecken, etwas zu lernen und das sogar zu perfektionieren. Besser noch: Diesen Prozess bekommt ein Kind ganz alleine hin, ohne dass wir ihm etwas eintrichtern müssen. Bestes Beispiel: Bereits kleine Kinder erbringen die Meisterleistung, eine Sprache zu erlernen, sei es Deutsch, Englisch, Mandarin oder Kisuaheli. Ein Erwachsener braucht dafür Jahre, denn der Aufbau von Sprachen unterliegt meist komplexen Strukturen. Ein Kind lernt Mandarin „einfach so“, nur weil es zur richtigen Zeit in seiner Entwicklung dieser Sprache ausgesetzt war, weil die Mutter oder andere Bezugspersonen mit ihm in dieser Sprache kommuniziert haben.[1]
Genau dies hat Maria Montessori als Medizinerin erkannt und es auf alle anderen Lernbereiche übertragen: Kleine Kinder durchlaufen in ihrem Leben Phasen, in denen sie besonders aufnahmefähig sind für bestimmte Lerninhalte. Gibt man ihnen in dieser Zeit die Möglichkeit, ihrem Interesse nachzugehen, werden sie das Wissen wie ein Schwamm aufsaugen. Maria Montessori hatte diese Zeitabschnitte „sensible Phasen“ genannt (mehr dazu weiter unten).
Sie bezeichnete das Kind als „Baumeister seines Selbst“, der intuitiv spürt, was in seiner Entwicklung gerade dran ist. Die Rolle des Erwachsenen besteht darin, das Kind genau zu beobachten, um zu wissen, in welcher Phase es sich gerade befindet und was es braucht – und ihm dann diesen Entwicklungsschritt zu ermöglichen. Nicht nur ist es so, dass wir alle am besten lernen, wenn dieser Prozess intrinsisch motiviert ist, also aus uns selbst heraus kommt. Bei Kindern ist das intrinsische Lernen von Anfang an angelegt – und kann ihnen höchstens abhandenkommen, wenn wir sie nicht in einer angemessenen Form begleiten.
Diese Idee von der kleinen Baumeisterin, die in unserer Tochter steckt, oder vom weisen Entdecker, der unser Sohn ist, widerstrebt uns Erwachsenen zunächst. Bringen wir sie doch mit dem Auto zur Schule, damit ihnen auf dem Schulweg nichts zustößt, schmieren ihnen Brote, damit sie etwas zu essen haben, ziehen ihnen eine Jacke an, weil sie es noch nicht selbst können – und weil man das bei Kindern eben so macht. Sie sind ja noch klein.
Und jetzt eine Überraschung: Kinder können viel mehr, als wir ihnen zutrauen. Selbst laufen lernen sie von ganz allein, obwohl dies ein hochkomplexer Vorgang ist, der im Gehirn abläuft – das stellen zum Beispiel Schlaganfallpatienten fest, die das Laufen neu erlernen müssen.
In erster Linie geht es darum, dass wir kein Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder haben und ihnen nicht die Chance geben, ihre Baumeistertätigkeit an sich selbst auszuüben. Aus Angst vor … ja, wovor eigentlich? Dass sie unabhängig werden und uns nicht mehr brauchen? Aber ist das nicht der Sinn von „Er-Ziehung“ – dass die Kinder zu selbstbewussten, unabhängigen Erwachsenen werden, die sich in der Welt gut zurechtfinden? Sabotieren wir diesen Gedanken nicht, indem wir ihnen alles abnehmen? Bevormunden wir sie sogar vielleicht, ohne es böse zu meinen?
In der traditionellen Pädagogik werden Entwicklungsziele definiert, daraufhin „er-zieht“ man die Kinder in diese Richtung. Maria Montessori hatte als Ärztin einen anderen Ansatz: Am Anfang steht die Diagnose, erst dann werden die passenden Bildungsinhalte und Methoden gewählt. Denn jedes Kind ist anders, hat andere Begabungen und Schwächen, die unterschiedlich begleitet werden müssen. Es gibt keine zwei gleichen „Baupläne“. Geht man auf jedes Kind einzeln ein, kann es seine Potenziale optimal entfalten. Doch diese Herangehensweise braucht Ressourcen in Form von Erzieherinnen und Lehrerinnen[2], die auf die Kinder eingehen. Das können sich die meisten öffentlichen Schulen gar nicht leisten. Außerdem sind persönliche Entwicklung und Individualität an den meisten dieser Schulen eher nicht erwünscht.
Wie lassen wir unsere Kinder sich frei entfalten? Indem sie machen können, was sie möchten? Ganz und gar nicht. Dass die Montessori-Pädagogik antiautoritär sei, ist wie erwähnt ein Vorurteil. Manche Kritiker meinen wiederum, sie sei zu rigide. Dass beides nicht zutrifft, zeigen wir an anderer Stelle. So viel sei vorweggenommen: Maria Montessori sprach von einer „vorbereiteten Umgebung“, in der Kinder Lernerfahrungen machen können und damit ihr Lernbedürfnis ausleben. In dieser Lernumgebung sollte alles so gestaltet sein, dass die Lernimpulse ausschließlich positiv auf sie wirken. Dann kann ein Kind sich selbst bilden, aus einem inneren Impuls heraus, ganz spontan, ohne von uns Erwachsenen gelenkt zu werden. Der Erwachsene bietet immer dann Hilfestellung, wenn das Kind von allein nicht weiterkommt. Wobei sich die Kleinen nicht auf abstrakte Weise bilden, sondern immer auf die Realität bezogen – die sie mit allen ihren Sinnen entdecken und erobern. Deshalb bereiten Montessori-Kinderhäuser auf das echte Leben vor.
Um diese Entdeckungen zu ermöglichen, hat Maria Montessori vielfältiges Lernmaterial entwickelt, das wir in einem späteren Kapitel ausführlich vorstellen werden. Das Kind erreicht damit nach und nach einen höheren Grad der Unabhängigkeit – wobei sich diese Entwicklung auch im Erwachsenenalter noch fortsetzt.
Neben der vorbereiteten Umgebung war es Maria Montessori wichtig, das Kind als Einheit wahrzunehmen, als Verbindung von Körper, Geist und Seele, und nicht als leeres Gefäß, das gefüllt wird. Sie brachte den Kindern Respekt und Zuwendung entgegen und sah sie nicht als unfertige Erwachsene an. Und dasselbe bekam sie zurück: Auch die Kinder haben ihr auf ganz natürliche Weise Respekt entgegengebracht. Denn sie fühlten sich ernst genommen und waren zufrieden.
Wer war Maria Montessori?
Doch wer war diese Frau, die eine für die damaligen Verhältnisse sehr moderne Sicht auf Kinder hatte und als einzige Pädagogin zu den Klassikern zählt (sie war sogar so bekannt, dass ihr Porträt den italienischen 1000-Lire-Schein schmückte)?
Wenn es nach Maria Montessoris Vater gegangen wäre, wäre seine Tochter Lehrerin geworden – falls sie als Frau überhaupt einen Beruf ergriffen hätte. Nur der Mutter, einer gebildeten, politisch aufgeschlossenen und liberalen Frau, hatte sie zu verdanken, dass es anders gekommen ist. Diese unterstützte ihre Tochter dabei, aus der traditionellen Frauenrolle auszubrechen und ihre beruflichen Vorhaben umzusetzen. Und die waren ambitioniert: Als erste Frau in Italien wagte Maria Montessori es, Medizin zu studieren und war damit die einzige Studentin in dem Studiengang. Den Lebensunterhalt bestritt sie während des Studiums weitestgehend selbstständig – ein Aspekt, der später in der Montessoripädagogik für ältere Kinder eine Rolle spielen würde.
Ihr Prüfungsvortrag wurde mit Begeisterung aufgenommen – damit war sie die erste Frau in Italien, die einen Doktortitel in Medizin und Chirurgie hatte und den Beruf der Ärztin ergriff, mit einer Spezialisation auf Kinderheilkunde. Doch damit gab sich Maria Montessori nicht zufrieden. Sie war vielseitig interessiert und tauchte zusätzlich in die Gebiete Entwicklungspsychologie und Psychiatrie ein.
Normalisierung des Kindes
Zuerst beschäftigte sie sich mit geistig behinderten Kindern und stellte fest, dass viele von ihnen nach einer gezielten Förderung bei Prüfungen im ersten Schuljahr genauso gut abschnitten wie Kinder ohne Behinderung. Sie kam zu dem Schluss, dass alle Kinder auf diese Weise von einer Förderung profitieren, und arbeitete ein pädagogisches Konzept aus, das sie schon bald, nämlich im Jahr 1907, erproben konnte – in einem sozialen Brennpunkt von Rom. Dort wohnten vernachlässigte Kinder, die herumstreunten und Schäden an den Gebäuden verursachten. Die Baugesellschaft in dem Bezirk beschloss, ein Zimmer für diese Kinder einzurichten, und fragte Maria Montessori, ob sie diese beaufsichtigen möchte. Sie stimmte zu.
Sie, die sie mit ihrer eigenen Schulzeit nicht zufrieden gewesen war, konnte nun das, was sie an behinderten Kindern beobachtet und in wissenschaftlichen Aufsätzen gelernt hatte, an nicht behinderten Kindern umsetzen. Mit überwältigendem Erfolg: Die Kinder, die sie betreute, hatten zu Anfang keine Interessen, waren launisch, schüchtern, in sich selbst gekehrt oder wild. Maria Montessori schaffte es nicht nur, sie für das von ihr entwickelte Material zu interessieren – die Kinder blieben bei ihren Aufgaben, bis sie sie jeweils gelöst hatten, und wiederholten sie noch diverse Male. Sie wählten sich ihre Aufgaben selbst aus und schafften es, sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren. Für herkömmliches Spielzeug interessierten sie sich nicht so sehr wie für das Lernmaterial. So lernten sie auch lesen und schreiben. Die Kleinen veränderten sich wesensmäßig: Nach einiger Zeit hatten sie Spaß daran, sich mitzuteilen, waren glücklich, fröhlich, selbstbewusst und gern in Gesellschaft. Dabei waren sie sehr rücksichtsvoll und freundlich zueinander.
Das, was hier passiert war, nannte Maria Montessori die Normalisierung des Kindes. Heute klingt der Begriff antiquiert und unpassend – denn was ist schon normal? Was die Pädagogin damit meinte, waren Kinder, die sich in ihrer Haut wohl fühlten, lebhaft, gutgelaunt waren, die aktiv und voller Selbstvertrauen ihren eigenen Weg gingen. Dies war und ist das Ergebnis der ruhigen und konzentrierten Arbeit in einem von Montessori inspirierten Kinderhaus.
Das Konzept, das in der ersten Einrichtung von Maria Montessori zum Tragen kam, war damals neu: Die Kinder waren selbst dafür zuständig, das Haus zu bewirtschaften. Sie hielten es sauber, hatten Waschtische in ihrer Größe, in denen sie ihr Geschirr selbst abwaschen konnten, kümmerten sich um Kleintiere und Pflanzen. Das Mobiliar war an ihre Größe angepasst: kleine Tische und Stühle, die leicht waren und sich gut von einem Ort zum anderen tragen ließen.
Die Kinder in dieser Einrichtung entwickelten sich so gut, dass in Rom sehr bald mehrere „Kinderhäuser“[3] eröffnet wurden, darunter auch eins für Kinder aus der höheren Gesellschaftsschicht.
Montessori im Ausland
Die Nachricht von den Montessori-Kinderhäusern verbreitete sich. Immer mehr Besucher aus Italien und aus anderen Ländern kamen nach Rom, um sich die Arbeit Maria Montessoris anzuschauen. Montessori wurde zu einer Bewegung, die immer mehr Menschen interessierte; sogar Sigmund Freud gehörte zu den Förderern.
Maria Montessori entwickelte Ausbildungskurse für Interessierte aus aller Welt; sogar in Sankt Petersburg kam auf diese Weise eine Montessori-Klasse zustande. Erzieherinnen in England und in den Niederlanden zeigten sich begeistert. Gerade in den Niederlanden entstanden Basisschools, die ein Kinderhaus und eine sechsjährige Grundschule beherbergten, in Amsterdam wurde sogar ein Montessori-Lyzeum für Kinder ab 12 Jahren gegründet – es existiert bis heute. Seitdem gehört die Montessori-Pädagogik als Variante zum niederländischen Erziehungssystem; in keinem anderen Land gibt es so viele Montessori-Schulen wie dort.
Aber auch in den USA fanden die Ideen und Bücher der Ärztin Anklang, dort wurden ebenfalls zahlreiche Schulen eröffnet. Es war aber auch das Land, in dem es zu den ersten Konflikten kam: Helen Pankhurst, die die Montessori-Einrichtungen in Amerika leitete, äußerte den Wunsch, selbst Ausbildungskurse anzubieten, doch Maria Montessori ließ dies nicht zu. Dadurch entwickelte Helen Pankhurst ihr eigenes Konzept, den Daltonplan, mit dem sie ebenfalls Erfolg hatte.
Maria Montessori war es wichtig, dass alle autorisierten Montessori-Einrichtungen auf der ganzen Welt gleich arbeiten. Das hat sie auch geschafft. So ähneln sich die Kinderhäuser rund um den Globus bis heute stark, ob sie sich nun in Shanghai befinden, in New York oder in München. Dass die pädagogischen Prinzipien überall umgesetzt werden und das Montessori-Lernmaterial zum Einsatz kommt, dafür sorgt die Association Montessori Internationale (AMI).
Zu Lebzeiten hat Maria Montessori ihr eigenes System vor Aufweichungen geschützt und wandte sich damit sogar gegen Menschen aus den eigenen Reihen. Sie kritisierte Dorothy Canfield-Fisher, die sich mit ihrem Buch „A Montessori Mother“ für die Montessori-Prinzipien einsetzte. Auch mit Elise Herbatschek aus Wien, die in einer Gemeinschaftsarbeit eine Musikdidaktik im Sinne Montessoris ausgearbeitet hatte, kam es zu Konflikten. Maria Montessori ließ es nicht zu, dass ihre Anhängerinnen die von ihr aufgestellten Prinzipien auf ihre Weise interpretierten und in einem gewissen Rahmen weiterentwickelten, doch gerade diese Freiheit und Unabhängigkeit war es, für die sie sich bei den Kindern stark machte.
Eine pädagogische Richtung lebt zudem davon, dass sie sich weiterentwickelt und an die veränderten Gegebenheiten anpasst. So geriet die Montessori-Pädagogik in die Isolation und hat sich bis heute nicht weiterentwickelt.
Während sich die Ideen von Maria Montessori auf der ganzen Welt verbreiteten, verloren sie in Italien an Bedeutung, möglicherweise deshalb, weil ihre Begründerin mit Mussolini kooperierte. Zu den Beweggründen ist nichts bekannt. Sie hinterlassen Fragezeichen, denn die Vorstellung, Kinder zu selbstbewussten und unabhängigen Individuen zu erziehen, passte nicht zu der Ideologie der Faschisten. 1934 schließlich schloss man die Montessori-Schulen in Italien.
Auch in Deutschland wurde die Montessori-Pädagogik bereits zu Anfang der Regierungszeit der Nationalsozialisten verboten, ihre Bücher hat man verbrannt – mit der Begründung, die Individualisierung, die darin propagiert wird, stünde der Volksgemeinschaft im Wege.
Maria Montessori besuchte Indien, wo bereits vorher zahlreiche Einrichtungen nach dem Vorbild in Italien eröffnet worden waren – durch Inderinnen, die sich von ihr hatten ausbilden lassen. Das Land erhoffte sich von ihrem Besuch eine Unterstützung bei der Alphabetisierung der Bevölkerung. Maria Montessori blieb mehrere Jahre und vollendete dort ihr pädagogisches Werk, das sie um religiös-mystische Aspekte ergänzte.
So werfen Kritiker der Montessori-Pädagogik vor, dass sie teilweise spirituell sei. Und tatsächlich muten Begriffe wie „Erdkinderplan“ und „kosmische Erziehung“ so an, auch wenn man bedenken muss, dass diese Begrifflichkeiten aus alten Zeiten stammen.[4] Wobei die Tatsache, dass Maria Montessori selbst Wissenschaftlerin war und ihre Methoden auf Forschungsergebnissen beruhten, diesen Vorwurf wieder aufhebt. Aus ihrer Sicht können beide Aspekte gut koexistieren. Sie selbst ließ sich bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihrem Werdegang immer wieder von ihrer Intuition leiten.
Ihr Konzept sollte allen Kindern dieser Welt zugutekommen, unabhängig von ihrer Religion, Hautfarbe oder ethnischen Gruppe. Deshalb ist Montessori auch kein Trademark; die Methode soll für alle zugänglich sein. Sie sah alle Kinder und alles, was sie umgab, als einen großen Organismus an. Diese Überlegungen flossen in die „kosmische Erziehung“ ein, an der man auch den Einfluss des Onkels ihrer Mutter erkennen konnte, der renommierter Geologe war.
Neben den naturwissenschaftlich-entwicklungspsychologischen und teilweise auch religiösen Komponenten in ihrer Erziehung war Maria Montessori auch eine Visionärin. Sie setzte sich für eine Welt ohne Krieg ein und wurde gleich dreimal für den Friedensnobelpreis nominiert. Jedes Kind, das auf die Welt kommt, war für sie die Chance, unsere Welt friedvoller zu gestalten. Den Ursprung von kriegerischen Auseinandersetzungen sah sie in den frühen Kinderjahren, wo Kinder gegen ihre Eltern kämpften, die ihnen nicht zubilligten, autonome Wesen zu sein. Kinder, die nie gelernt hatten, eigenständig etwas zu tun, brauchten aus ihrer Sicht auch im Erwachsenenalter jemanden, der sie anleitete, jemanden, der sie führte, einen Führer. An diesem Denken wird deutlich, dass Montessoris Ideen auch eine gesellschaftskritische Komponente enthielten.
Sie war eine mutige Frau und bezeichnete sich auch selbst als solche, wobei sie zugab, dass es nicht immer leicht war, mutig zu sein und sich für die Emanzipation von Frauen und Kindern einzusetzen.
Montessori-Einrichtungen heute
Auch heute hat die Montessori-Pädagogik nichts von ihrer Aktualität verloren. Weltweit existieren ca. 22.000 Montessori-Einrichtungen. Hinzu kommen jene, die zwar nicht das gesamte Konzept, wohl aber Elemente daraus verwenden. Denn viele Ideen sind zum Standard in der Pädagogik geworden, zum Beispiel Möbel in Kindergröße oder generell Lernspielzeug. Das von Maria Montessori entwickelte Material hat eine Qualität, die bis heute nicht erreicht ist.
Heutzutage kann man von einer Renaissance der Montessori-Methoden sprechen; sie sind in aller Munde und ziehen Eltern an, die mit dem staatlichen Bildungssystem unzufrieden sind und nach Alternativen suchen.
Die Montessori-Laufbahn eines Kindes kann bereits in der Montessori-Krippe beginnen, in der Kinder bis zu 3 Jahren aufgenommen werden. Im Montessori-Kinderhaus, das Kinder von 3 bis 6 Jahren beherbergt, lernen Kinder zusammen oder alleine, wachsen an ihren Aufgaben und üben sich am gemeinsamen Leben. Eine Montessori-Grundschule besuchen Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren (dass die Grundschule in Deutschland nach nur vier Jahren zu Ende ist, ist eine politische Entscheidung, die nicht der natürlichen kindlichen Entwicklung entspricht[5]). Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren entwickeln sich in der Montessori-Sekundarstufe weiter. In Deutschland gibt es tatsächlich einige wenige Montessori-Gymnasien oder Montessori-Realschulen; die Kinderhäuser und Grundschulen sind allerdings die am weitesten verbreitete Form. Dies mag daran liegen, dass die Montessori-Pädagogik durch die immer abstrakter werdenden Inhalte bei den höheren Schulstufen an ihre Grenzen stößt.
Über die Hälfte der Montessori-Schulen, die heute existieren, sind Privatschulen. Der Grund: Das hochwertige Lernmaterial ist teuer in der Anschaffung und auch die ästhetisch und kindgerecht gestaltete Umgebung muss bezahlt werden. Öffentliche Fördergelder reichen meist nicht aus, um staatliche Schulen damit auszustatten. Das ist bedauerlich, sind die Methoden doch zukunftsweisend, auch wenn sie sicherlich an die heutigen Gegebenheiten angepasst werden müssten.
So stellt Katy Wright, Montessori-Erzieherin an einer öffentlichen Schule, in ihrem Vortrag fest, ihr dreijähriger Sohn habe in einer Montessori-Einrichtung nicht nur gelernt, konzentriert zu arbeiten, sondern bereits Führungskompetenzen erworben: Er hat sein Arbeitsgedächtnis trainiert, indem er verschiedene Informationen innerhalb eines kurzen Zeitrahmens behalten und neu ordnen musste. Er lernte mentale Flexibilität, weil er Regeln in unterschiedlichen Umgebungen angewandt hat. Und nicht zuletzt lernte er Selbstkontrolle, also die Fähigkeit, impulsive Handlungen zu unterdrücken, an einem Thema dranzubleiben und Prioritäten zu setzen. Sie ist der Meinung, dass Montessori den Großteil der Probleme im öffentlichen Schulsektor lösen könnte.
Und das allein dadurch, dass man das Kind gut beobachtet, ihm in seiner Entwicklung folgt und es begleitet. Dadurch, dass Erzieher eine Lernumgebung schaffen, in der sich Kinder wohlfühlen und motiviert sind, neue Dinge zu entdecken. Und ihnen so die Gelegenheit gibt, sich zu unabhängigen und mündigen Teilnehmern unserer Gesellschaft zu entwickeln.
Wie wir zu Anfang gesehen haben, herrschen viele Vorurteile im Zusammenhang mit der Montessori-Pädagogik. Katy Wright zitiert Merriam Webster, ein bekanntes amerikanisches Wörterbuch, in dem die Methode so beschrieben wird: „… a system for training young children emphasizing free physical activity“, also als System, in dem die freie körperliche Betätigung im Vordergrund steht. Das American Heritage Dictionary bezeichnete es als „practical play“ (praktisches Spiel). Zwar haben Bewegung und praktische Übungen einen hohen Stellenwert in dieser Pädagogikrichtung, aber die Reduzierung allein auf diese Punkte verfälscht das Bild.
Wir schauen jetzt genauer hin, was Montessori wirklich ist.
Die Entwicklungsphasen des Kindes
Kinder lernen unglaublich schnell, vor allem dann, wenn die Lerninhalte ihrem Entwicklungsstand entsprechen. Jedes Kind durchläuft die gleichen Phasen, in denen es besonders aufnahmefähig ist für bestimmte Lernimpulse, wo es Interesse an bestimmten Dingen zeigt und sich das entsprechende Wissen mühelos aneignet. Und zwar indem es sich intensiv damit beschäftigt. Während wir Erwachsene danach streben, Dinge möglichst effizient und zügig fertigzustellen, hat ein Kind Freude daran, eine Tätigkeit immer und immer wieder auszuüben. Es reinigt ein Fenster, obwohl dies schon längst sauber ist, aus reiner Freude an der Bewegung. Erst wenn das Kind die Tätigkeit bis zum Letzten ausgekostet hat, hört es damit auf.
Diese Phasen, die bei jedem Kind in bestimmten Lebensabschnitten auftauchen, dauern solange an, bis ein Kind sich das jeweilige Wissen angeeignet hat. Danach ist das Zeitfenster vorbei und das Kind wendet sich einem anderen Lerninhalt zu. Dies erkannte Maria Montessori; sie stellte auch fest, dass die Phasen sich ablösen und teilweise zeitlich überlagern. Und dass diese Zeit der intrinsischen Motivation unwiederbringlich verloren ist, sobald sich das Zeitfenster geschlossen hat.
Zwar ist es theoretisch möglich, dass ein Kind eine Tätigkeit nach Ablauf einer sogenannten sensiblen Phase noch lernt, aber dies ist deutlich anstrengender und führt möglicherweise zu Frustrationen. Wie bereits oben erwähnt, fällt es einem kleinen Kind automatisch zu, eine komplexe Sprache zu lernen, das ältere Kind benötigt bereits eine Lernmethode und einen Lehrer.
Manches lässt sich nachträglich nicht mehr erlernen, zum Beispiel die Bildung von Knacklauten, die einige afrikanischen Stämme nutzen. Oder die Fähigkeit, unterschiedliche Weißnuancen zu unterscheiden, wie es die Inuit können. Auch das Fahrradfahren ist nicht einfach zu erlernen, wenn man das entsprechende Zeitfenster nicht genutzt hat. Man lernt es als Erwachsener nicht mehr nebenbei. Wiederum bleiben die Fähigkeiten, die man früh erworben hat, meist ein Leben lang erhalten.
Oft wird es auch so sein, dass ein Kind keine Notwendigkeit mehr sieht, etwas zu lernen, sobald die entsprechende sensible Phase vorbei ist. Oder es verliert das Interesse daran. Deshalb ist es wichtig, dass Erzieher diese Phasen kennen, die Kinder gerade im Hinblick darauf beobachten und entsprechend begleiten.
Auch wenn Maria Montessori die sensiblen Phasen bei Kindern durch genaue Beobachtung herauskristallisieren konnte, sind ihre Annahmen inzwischen weitestgehend von der Wissenschaft bestätigt worden, vor allem durch den Psychologen Jean Piaget. Alle Kinder durchlaufen dieselben Phasen; alle lernen in etwa im Alter von einem Jahr laufen. Die Entwicklungspsychologie verwendet ähnliche Phaseneinteilungen.
Während der berühmte rosa Turm, auf den wir später noch zu sprechen kommen werden, für einen Dreijährigen hochinteressant sein kann, weil er genau seiner Entwicklungsstufe entspricht, entwickeln wir Erwachsene keine Faszination dafür. Auch das Gehen auf einer Linie, das in den Montessori-Kinderhäusern häufig praktiziert wird, empfinden wir als langweilig. Für Kinder in einem bestimmten Alter ist es aber genau das, was sie brauchen. Ein Zweijähriger wiederum kann weder auf der Linie gehen noch interessiert er sich dafür und lässt auch den rosa Turm links liegen. Seine Lernbedürfnisse gestalten sich simpler: Vielleicht schlägt er zwei Topfdeckel aneinander und entdeckt dabei, dass er in der Lage ist, eine Wirkung hervorzurufen: zum einen das laute Geräusch – und vielleicht auch eine Verärgerung seitens der Eltern.
Die natürlichen Reifungsvorgänge des Kindes und seine Entwicklung bedingen sich wechselseitig, dabei kann der Lernprozess positiv beeinflusst werden. Und zwar indem man das Kind sich auf natürliche Weise entwickeln und weiterbilden lässt und es dabei lediglich begleitet. Handelt man nicht so, bleiben die Bedürfnisse des Kindes unbefriedigt und es kommt zu Trotzreaktionen oder zur Entwicklung von Angst. Vielleicht weint das Kind auch. Eltern interpretieren diese Reaktionen oft als Launen, dabei sind sie nach Montessori vielmehr Alarmzeichen dafür, dass die seelischen Bedürfnisse eines Kindes nicht befriedigt wurden. Daher sollten Eltern solche Reaktionen auf jeden Fall ernst nehmen. Ein fröhliches Lächeln hingegen ist ein Hinweis darauf, dass ein Bedürfnis des Kindes befriedigt wurde.
Viele Eltern, die darüber nachdenken, ihr Kind in einem Montessori-Kinderhaus anzumelden, haben Angst davor, dass es sich einseitig entwickeln könnte, wenn es seinen Interessen nachgeht. Dass es, wenn es sich für Mathematik interessiert, immer nur Mathematik machen will. Montessori-Erzieherinnen berichten, dass dies so gut wie nie eintritt. Die sensiblen Phasen sorgen dafür, dass die Tätigkeitsfelder ausgewogen bleiben.
Interessiert sich ein Kind partout nicht für ein Thema, das eigentlich seinem Entwicklungsstand entspräche, ist die Aufgabe der Eltern und Erzieher, geduldig zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass das Interesse früher oder später doch noch geweckt wird – bei manchen Kindern dauert es eben etwas länger. Eine Erzieherin kann versuchen, das Kind sanft in diese Richtung zu steuern, indem sie die Aufmerksamkeit des Kindes auf eben jenen Gegenstand und das entsprechende Lernmaterial lenkt. Spätestens aber, wenn ein guter Freund des Kindes eine Fähigkeit besitzt, die dem Kind noch fehlt, entwickelt es den Ehrgeiz, sie ebenfalls zu erlernen.
Ursprünglich hatte Maria Montessori ihre Methode für die 3- bis 6-Jährigen entwickelt, dort ist sie auch am effektivsten. Die Ärztin merkte aber, wie gut sich die Kinder entwickelten, und weitete die Methode auf Babys und ältere Kinder aus. So unterschied sie schließlich drei sensible Phasen: 0 bis 6 Jahre (mit einer weiteren Unterteilung von 0 bis 3 und 3 bis 6), 6 bis 12 Jahre und 12 bis 18 Jahre.
Sie sprach von vier Stufen der Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen. Die erste Stufe von 0 bis 6 Jahren wie auch die von 12 bis 18 Jahren bezeichnete sie als formativ; hier passiert sehr viel in der Entwicklung eines Kindes. Die Stufen 6 bis 12 und 18 bis 24 wiederum bezeichnete sie als stabil.
Die Entwicklung vollzieht sich in Schüben – während die Anforderungen in unserem Schulsystem linear gesteigert werden, was nicht zur natürlichen Entwicklung des Kindes passt. Damit das Kind in einer Bildungseinrichtung nahtlos in seiner Entwicklung begleitet werden kann, sah Maria Montessori die Notwendigkeit, die Institution der Kita und der Schule nicht zu trennen.
Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren
Während viele das Universitätsstudium als wichtigste Phase in der Entwicklung eines Menschen ansehen, prägend die ersten sechs Jahre ihn noch viel entscheidender. Es ist die wichtigste Zeit im Leben. Deshalb sollten Eltern ihre Kinder aktiv am Leben teilhaben lassen, sie überallhin mitnehmen, zum Einkaufen, auf den Markt, vielleicht mal in die Firma, damit sie Eindrücke sammeln – und sie nicht im Laufstall oder im Kinderzimmer lassen.
Erste Unterphase: 0 bis 3 Jahre
Ab der Geburt bis zum dritten Lebensjahr dominiert das, was Maria Montessori den „absorbierenden Geist“ genannt hat. Das Kind hat sich zwar bei der Geburt von einem Embryo zu einem Lebewesen entwickelt, sein geistiger Status entspricht aber nach wie vor dem eines Fötus. Es ist vielerlei Eindrücken aus seiner Umgebung ausgesetzt, sowohl positiven als auch negativen: Es hört allerlei Geräusche, nimmt seine Umwelt mit dem Geruchssinn auf und bekommt unterbewusst sogar Stimmungen mit. All dies saugt es auf wie ein Schwamm und speichert sie im unbewussten Gedächtnis ab. So lernt es auf unbewusste Art Verhaltensweisen und ist in dieser Zeit besonders formbar. Hier – vor allem im ersten Jahr – wird der Grundstein für das spätere Leben gelegt. Das Kind lernt, sich an seine Umwelt anzupassen. Erst danach baut es Schritt für Schritt seine Persönlichkeit auf.
Alles, was das Kind zu dieser Zeit erlebt, schlägt sich ungefiltert nieder, auch negative Erlebnisse. Mit der möglichen Folge, dass es bei negativen Erlebnissen kein Urvertrauen entwickelt und damit später oft ein Leben lang zu kämpfen hat.
Im nächsten Teil erfährst du etwas zu den sensiblen Phasen und kannst weiter in die faszinierende Welt von Montessori eintauchen.
Alle Quellen findest du am Ende von Teil 3.
- [↑] Zum faszinierenden Thema des kindlichen Spracherwerbs bereiten wir gerade einen Artikel vor. Du darfst jetzt schon gespannt sein!
- [↑] Auch wenn wir im Artikel nur die weibliche oder männliche Form verwenden, sind selbstverständlich immer alle Geschlechter mitgemeint.
- [↑] Ein Kinderhaus ist in etwa die Montessori-Entsprechung eines Kindergartens.
- [↑] In deutschen Montessori-Einrichtungen spielt der Erdkinderplan übrigens so gut wie keine Rolle.
- [↑] Michael Klein-Landeck und Tanja Pütz. Montessori-Pädagogik. Einführung in Theorie und Praxis. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2011
Kommentare